Die klassische Buchbranche ist eine Welt der Extreme: Der Markt wird noch immer von einzelnen Bestsellern bestimmt, die regelmäßig den Umsatz retten. Wie geht die Branche damit um, und wie können Self-Publishing-Autoren davon lernen?
Verlegen als Roulette
Bestseller sind nicht planbar; Titel wie Harry Potter, Game of Thrones oder Shades of Grey treten überraschend auf, als „schwarzer Schwan„. In der Branche trifft man folglich auf Menschen, welche dem wahrgenommen Risiko mit viel Idealismus begegnen, oder zumindest mit Überstunden, Cocktails und Sekt. Dieses Risikobewusstsein wird sehr anschaulich bei Walter Benjamin beschrieben, in der Fragmentsammlung „Einbahnstraße“:
VERLEGER: Meine Erwartungen sind aufs schwerste enttäuscht worden. Ihre Sachen haben gar keine Wirkung beim Publikum; sie ziehen nicht im geringsten. Und ich habe an Ausstattung nicht gespart. Ich habe mich für Reklamen verausgabt. – Sie wissen, wie ich nach wie vor Sie schätze. Sie werden es mir aber nicht verdenken können, wenn nun auch mein kaufmännisches Gewissen sich regt. Wenn irgendeiner, tue ich für die Autoren, was ich kann. Aber schließlich habe ich auch für Frau und Kinder zu sorgen. Ich will naturlich nicht sagen, daß ich die Verluste der letzten Jahre Ihnen nachtrage. Aber das bittere Gefühl einer Enttäuschung wird bleiben. Zurzeit kann ich Sie leider absolut nicht weiter unterstützen.
AUTOR: Mein Herr! Warum sind Sie Verleger geworden? Das werden wir umgehend heraushaben. Vorher gestatten Sie mir aber eins: Ich figuriere in Ihrem Archiv als Nr. 27. Sie haben fünf meiner Bücher verlegt; das heißt, Sie haben fünfmal auf 27 gesetzt. Ich bedaure, daß 27 nicht rauskam. Übrigens haben Sie mich nur cheval gesetzt. Nur weil ich neben Ihrer Glückszahl 28 liege. – Warum Sie Verleger geworden sind, das wissen Sie nun. Sie hätten ebensogut einen honetten Lebensberuf ergreifen können wie Ihr Herr Vater. Aber immer in den Tag hinein – so ist die Jugend. Fröhnen Sie weiter Ihren Gewohnheiten. Aber vermeiden Sie es, als ehrlichen Kaufmann sich auszugeben. Setzen Sie keine Unschuldsmiene auf, wenn Sie alles verjeut haben; erzählen Sie nichts von Ihrem achtstündigen Arbeitstag und von der Nacht, in der Sie auch kaum noch zur Ruhe kommen. „Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!“ Und machen Sie Ihren Nummern keine Szene! Sonst wird man Sie rausschmeißen!
„Rechtsschutz für Unbemittelte„, in: Walter Benjamin: Einbahnstraße
Jenseits der Einbahnstraße
Vielleicht lässt sich der Trend zum Self-Publishing auch als Chance für Verlage verstehen, den Roulette-Faktor zu verringern. Bei Titeln im Selbstverlag lässt sich besser einschätzen, wie hoch die Nachfrage sein wird. Umso wichtiger wird es nun für die Autoren, sich gegenüber dem Unplanbaren abzusichern, um die Geduld für zukünftige Erfolge psychologisch wie auch wirtschaftlich zu ertragen.
Was im klassischen Verlagswesen die Querfinanzierung über Bestseller war, gelingt bei Autoren über ‚Brotberufe‘ und andere Auftragsarbeiten. Im Investment-Bereich lässt sich dieses Vorgehen als „Barbell-Strategy“ beschreiben: Eine Mischung von Investitionen mit kurzfristigem und solchen mit langfristigem Ertrag. Solange das Risiko begrenzt ist, lässt sich ein späterer Gewinn bequem abwarten. Bei Self-Publishing-Autoren ist dieser Bereich noch immer ausbaufähig, da Publikationen im Selbstverlag bei Stipendien noch kaum berücksichtigt werden. Beiträge bei etablierten Zeitschriften erscheinen daher weiterhin sinnvoll, um den Anschluss an diese Fördermöglichkeiten nicht zu verlieren.
Neben dieser Haltung zum Risiko lässt sich von klassischen Verlagen noch eine zweite Eigenschaft lernen. Der deutsche Buchmarkt verzeichnete im letzten Jahr einen Umsatz von etwa 9,5 Milliarden Euro – zwei Drittel von Aldi Süd. Trotz der vergleichbar schlechten Umsatzprognose entstehen auf der Buchmesse entschieden anregendere Gespräche als in anderen Branchen. Unabhängig von den Zahlen gibt es einen symbolischen Teil des Gehalts: Die Freude daran, etwas beizutragen, über Inhalte neuen Anschluss zu finden. Mit der wachsenden Vernetzung der Self-Publishing-Szene bei Stammtischen und im Internet muss man zum Glück nicht mehr auf die Buchmesse warten, um etwas davon zu erleben.